Der Bundesgerichtshof verhandelt augenblicklich eine Revision eines Urteils des OLG Oldenburg vom 25. Oktober 2012 Aktenzeichen 14 UF 80/12. Es geht hierbei um die Fortentwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Verwirkung von Ansprüchen auf Elternunterhalt insbesondere wegen Kontaktabbruchs des Elternteils im Verhältnis zum eigenen Kind. Bis die Revisionsentscheidung vorliegt, lohnt es sich, die Entscheidung des OLG Oldenburg näher zu betrachten. Wenn Sie Interesse an allgemeinen und weiterführenden Informationen zum Thema Elternunterhalt haben, empfehle ich Ihnen den Überblicksartikel → Ratgeber Elternunterhalt.
Der konkrete Fall
Der Vater des erstmals im Januar 2009 in Anspruch genommenen, damals bereits 56 Jahre alten Sohnes war im Jahre 1923 geboren. Die Ehe des Vaters wurde im Jahre 1971 geschieden. Der Sohn lebte fortan bei seiner Mutter. Nach dem Abitur im Jahre 1972 brach der Kontakt zum Vater ab. Der Vater errichtete im Jahre 1998 ein Testament, in welchem eine fremde Person als Alleinerbin eingesetzt wurde und zugleich bestimmt wurde, dass der eigene Sohn nur den strengsten Pflichtteil erhalten solle. In dem Testament ist ergänzend ausgeführt, dass der Vater zu seinem Sohn seit ca. 27 Jahren keinen Kontakt mehr habe.
Schwere Verfehlung des Vaters im Sinne von § 1611 Abs. 1 Satz eins BGB
Das Oberlandesgericht Oldenburg bejaht eine schwere Verfehlung des Vaters gegen seinen Sohn und infolgedessen eine vollständige Verwirkung von Ansprüchen auf Elternunterhalt. Diese Verfehlung sieht das Oberlandesgericht in dem in jeder Beziehung kontaktvermeidenden Verhalten des Vaters nach 1972. Das OLG Oldenburg sah es nach einer Beweisaufnahme insbesondere durch Anhörung des Sohnes als erwiesen an, dass sich der Vater nach der Trennung von seiner Ehefrau insgesamt von der Familie abgewandt hatte. Einige Postkartengrüße aus dem Urlaub folgten zwar noch. Weitergehende Kontaktversuche gab es jedoch nicht mehr. Hingegen suchte der Sohn nach dem Scheitern der Ehe seiner Eltern noch mehrfach von sich aus den Kontakt zu seinem Vater, um wieder eine Vater-Sohn-Beziehung herzustellen. Der Vater reagierte auf die Mitteilung von dem bestandenen Abitur nur mit einem Achselzucken. Die Mitteilung von der beabsichtigten Verlobung kommentierte der Vater nur mit den Worten “Du bist ja verrückt”. Nach der Überzeugung des OLG Oldenburg zeigte der Vater damit sein vollständiges Desinteresse an seinem Sohn. Wenn der Sohn nach derartigen Erfahrungen anschließend von sich aus keine weiteren Kontakte mehr zu seinem Vater suchte, sei dies nachvollziehbar, so das OLG in den Urteilsgründen. Zu Gunsten des Sohnes zieht das OLG auch das Testament des Vaters heran, welches als Beweisurkunde für die Kontaktlosigkeit während 27 Jahren dient. Zugleich dokumentierte der Vater mit seinem Testament den Bruch mit seinem Sohn.
Bruch der Eltern-Kind-Beziehung
Das OLG Oldenburg kommt in dem geschilderten Fall zu dem wertenden Ergebnis, dass zwischen Vater und Sohn über die bloße 27 -jährige Kontakt hinaus es einen endgültigen Bruch der Eltern-Kind-Beziehung gegeben hat. Das OLG Oldenburg wählt als Maßstab auch nach Erreichen der Volljährigkeit den § 1618 a BGB, welcher die wechselseitige Verpflichtung zu Beistand und Rücksichtnahme normiert. In dem der Vater die Kontaktbemühungen seines später bereits volljährigen Sohnes zurück wies, offenbarte er einen groben Mangel an elterlicher Verantwortung und menschlicher Rücksichtnahme. Im Ergebnis lägen somit die Voraussetzungen für eine schwere Verfehlung und damit eine Verwirkung des Unterhaltsanspruchs vor.
Vorsätzliches Handeln
Eine schwere Verfehlung muss dem Elternteil vorwerfbar sein. Im vorliegenden Fall war es nur Formsache, dass in jeder Hinsicht auf freier Willensentscheidung beruhende Handeln des Vaters als vorsätzlich einzustufen. Die Folgen seines Handelns waren für den Vater in jeder Situation erkennbar und er hat diese bewusst in Kauf genommen.
Allgemeine Ausführungen zu den Konsequenzen des Kontaktabbruchs
Das OLG Oldenburg nimmt den entschiedenen Fall zum Anlass, allgemeine Ausführungen zur Bedeutung eines Kontaktabbruchs zwischen Elternteil und Kind im System des Härtetatbestands von § 1611 Abs. 1 Satz 1 BGB anzustellen. Zitat: Wer sich bewusst und dauerhaft von jeglichen Beziehungen persönlicher und wirtschaftlicher Art zu seinen Kindern ablöst, stellt sich selbst außerhalb des familiären Solidarverbandes. Geschieht dies zudem noch in einer Weise, die für das nunmehr unterhaltspflichtige Kind traumatisierend wirkt, muss diesem die Auferlegung einer Zahlungspflicht in besonderer Weise als unbillig erscheinen, und zwar unabhängig von dem zuvor im Rahmen des Familienverbandes erhaltenen Unterhalt. Dafür ist ausschlaggebend, dass sich der Unterhaltsanspruch aus § 1601 BGB nicht unmittelbar aus dem rechtlichen Status der Verwandtschaft legitimiert, sondern seine Wurzeln in der familiären Solidarität und Verantwortung hat (BGH Urteil vom 15. September 2010 NJW 2010, Seite 3714). Nach der gesetzlichen Konzeption soll diese in einem Mehrgenerationenverhältnis lebenslang Geltung behalten, wobei es Kindern und Eltern verwehrt ist, sich unabhängig von der Qualität ihrer Beziehung der gesetzlich begründeten Verantwortung zu entziehen. Andererseits ist niemand gehalten, den Grundsatz der Solidarität auch tatsächlich zu leben, wenn es der dafür erforderlichen tragfähigen familiären Bindung fehlt. Vielmehr bleibt die Freiheit, das Leben in eigener persönlicher und wirtschaftlicher Verantwortung und auch anderen sozialen Bindungen zu gestalten. Der sich in dieser Weise bewusst und dauerhaft aus jeglicher persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen zu seinen nächsten Verwandten löst, entzieht sich selbst der familiären Solidargemeinschaft und kann dann auch keine solidarische Unterstützung mehr erwarten. Dies stünde in einem eklatanten Widerspruch zu dem eigenen Verhalten. In einer solchen Situation wird der eigene Elternteil wie ein Fremder empfunden, vergleiche BGH Urteil vom 19. Mai 2004 Aktenzeichen XII ZR 304/02, was die Auferlegung einer weiteren finanziellen Unterstützung schlechterdings als unbillig erscheinen lässt.
Fazit
Die Entscheidung des OLG Oldenburg fügt sich in die bisher schon herrschende höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Verwirkung von Ansprüchen auf Elternunterhalt ein. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass es sich letztlich auch in dem OLG-Fall um eine Einzelfallentscheidung handelt, deren Begründung nicht ohne weiteres auf andere Fälle übertragen werden kann. Der Verwirkungseinwand kann nur greifen, wo in der Gesamtschau die Inanspruchnahme auf Elternunterhalt unzumutbar ist und die dies begründenden Tatsachen auch hinreichend glaubhaft gemacht sind. Im vorliegenden Fall konnte der in Anspruch genommene Sohn zum einen auf das Testament des Vaters zurückgreifen und im übrigen sich erfolgreich darauf berufen, dass er selbst den Kontakt zum Vater mehrfach gesucht habe. Schwieriger sind diejenigen Fälle zu beurteilen, in denen das Kind aufgrund der Traumatisierung Kontaktangebote des Elternteiles abgelehnt hat oder wiederum aufgrund der Traumatisierung zwar den inneren Willen hat, den Kontakt zum Elternteil zu lösen, jedoch aus Harmoniebedürfnis und schwäche diesen Schritt tatsächlich nach außen hin nicht vollzieht. In derartigen Fällen können entscheidende helfen fachpsychologische Gutachten sein.