BGH: Allein erziehende Mutter einer neunjährigen Tochter muss Vollzeit arbeiten

Nach der großen Reform des Unterhaltsrechts im Jahre 2008 trifft Kinder betreuende Eltern eine verstärkte Erwerbsobliegenheit, also die Verpflichtung, neben der Kindererziehung erwerbstätig zu sein. Der Bundesgerichtshof konkretisiert fortlaufend die Anforderungen an diese Erwerbsobliegenheit. Die nachfolgende Entscheidung verstärkt die Erwerbsobliegenheit wieder, nachdem in den Jahren 2009 und 2010 die strengen Anforderungen des Gesetzgebers in der Tendenz von dem höchsten deutschen Zivilgericht eher abgeschwächt worden waren. Insbesondere der so genannte elternbezogene Grund der nachehelichen Solidarität hatte zuletzt wieder zu einer Annäherung der Anforderungen an diejenigen, welche bereits vor Inkrafttreten der Unterhaltsrechtsreform 2008 gegolten hatten, geführt. Infolgedessen schien es so, dass trotz Wegfalls der so genannten Lebensstandardsgarantie in der nachehelichen Zeit insbesondere nach längerer Ehezeit der kinderbetreuende Elternteil vielfach unbefristet und dauerhaft wieder einen nachehelichen Unterhaltsanspruch geltend machen konnte. Diese Entwicklung hat der Bundesgerichtshof mit der nachfolgend in den Grundzügen wiedergegebene Entscheidung vorläufig beendet. Einen allgemeinen Überblick über den Unterhaltsanspruch wegen Kindesbetreuung finden Sie unter → Grundsätze und Fallbeispiele des Unterhalts bei Aufeinandertreffen von Erwerbstätigkeit und Kindesbetreuung.

die Entscheidung des Bundesgerichtshofs XII ZR 94/09 vom 15. Juni 2011 im Überblick

Aus dem Tatbestand:
Die Parteien streiten um Abänderung eines Vergleichs über nachehelichen Unterhalt.
Sie hatten im Mai 1999 geheiratet. Im Juli 1999 wurde die gemeinsame Tochter geboren. Seit Februar 2005 ist die Ehe der Parteien rechtskräftig ge-schieden.
Das Kind lebte von Juli 2003 bis Dezember 2005 in einer Pflegefamilie und lebt seit Januar 2006 bei der Beklagten. Mit Vergleich vom 2. Juli 2007 ver-pflichtete sich der Kläger zur Zahlung nachehelichen Unterhalts an die Beklagte in Höhe von monatlich 440 Euro ab September 2006.
Mit der Abänderungsklage begehrt der Kläger Wegfall seiner Unterhaltspflicht für die Zeit ab Februar 2008. Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Dage-gen richtet sich die vom Oberlandesgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er sein Begehren auf Wegfall der Unterhaltspflicht weiterverfolgt.
Aus den Entscheidungsgründen:

Basisunterhalt

1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass mit Vollendung des dritten Lebensjahres des gemeinsamen Kindes grundsätzlich eine Erwerbsobliegenheit des betreuenden Elternteils einsetzt. Mit der Neuregelung des Betreuungsunterhalts durch das Gesetz zur Änderung des Unter-haltsrechts vom 21. Dezember 2007 (BGBl. I S. 3189) hat der Gesetzgeber ei-nen auf drei Jahre befristeten Basisunterhalt eingeführt, der aus Gründen der Billigkeit verlängert werden kann (BT-Drucks. 16/6980 S. 8 f.). Im Rahmen dieser Billigkeitsentscheidung sind nach dem Willen des Gesetzgebers kind- und elternbezogene Verlängerungsgründe zu berücksichtigen. Dabei wird der Be-treuungsunterhalt vor allem im Interesse des Kindes gewährt, um dessen Be-treuung und Erziehung sicherzustellen (BT-Drucks. 16/6980 S. 9; Senatsurteil vom 30. März 2011 – XII ZR 3/09 – FamRZ 2011, 791 Rn. 18 mwN).
Zugleich hat der Gesetzgeber mit der Neuregelung des § 1570 BGB dem unterhaltsberechtigten Elternteil die Darlegungs- und Beweislast für die Voraus-setzungen einer Verlängerung des Betreuungsunterhalts über die Dauer von drei Jahren hinaus auferlegt. Kind- und elternbezogene Umstände, die aus Gründen der Billigkeit zu einer Verlängerung des Betreuungsunterhalts über die Vollendung des dritten Lebensjahres hinaus führen können, sind deswegen vom Unterhaltsberechtigten darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen (Senatsurteile BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 23 und BGHZ 177, 272 = FamRZ 2008, 1739 Rn. 97).

Stufenweiser Übergang

Wie der Senat bereits wiederholt ausgesprochen hat, verlangt die gesetzliche Neuregelung zwar keinen abrupten Wechsel von der elterlichen Betreuung zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit (vgl. auch BT-Drucks. 16/6980 S. 9). Nach Maßgabe der im Gesetz genannten kindbezogenen (§ 1570 Abs. 1 Satz 3 BGB) und elternbezogenen (§ 1570 Abs. 2 BGB) Gründe ist auch nach dem neuen Unterhaltsrecht ein gestufter Übergang bis hin zu einer Vollzeiterwerbs-tätigkeit möglich (Senatsurteil vom 30. März 2011 – XII ZR 3/09 – FamRZ 2011, 791 Rn. 20 mwN).

Kriterium eltern- oder kindbezogene Gründe gegen Erwerbstätigkeit

Ein solcher gestufter Übergang setzt aber nach dem Willen des Gesetzgebers voraus, dass der unterhaltsberechtigte Elternteil kind- und/oder elternbezogene Gründe vorträgt, die einer vollschichtigen Erwerbstä-tigkeit des betreuenden Elternteils mit Vollendung des dritten Lebensjahres ent-gegenstehen (Senatsurteil vom 1. Juni 2011 – XII ZR 45/09 – zur Veröffentlichung bestimmt). Nur an solchen individuellen Gründen kann sich der gestufte Übergang im Einzelfall orientieren.
Soweit in Rechtsprechung und Literatur auch zu der seit dem 1. Januar 2008 geltenden Rechtslage abweichende Auffassungen vertreten werden, die an das frühere Altersphasenmodell anknüpfen und eine Verlängerung des Be-treuungsunterhalts allein oder überwiegend vom Kindesalter abhängig machen, sind diese im Hinblick auf den eindeutigen Willen des Gesetzgebers nicht halt-bar (Senatsurteil BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 28). Die kindbezogenen Verlängerungsgründe, insbesondere die Betreuungsbedürftigkeit, und die elternbezogenen Verlängerungsgründe als Ausdruck der nachehelichen Solidarität sind vielmehr nach den individuellen Verhältnissen zu ermitteln (Senatsurteil vom 1. Juni 2011 – XII ZR 45/09 – zur Veröffentlichung bestimmt).

Elternbezogener Grund der nachehelichen Solidarität

2. Diesen gesetzlichen Vorgaben trägt das Berufungsurteil nicht hinreichend Rechnung. Die zur Begründung angeführten Umstände können weder als individuelle kindbezogene noch als individuelle elternbezogene Gründe eine Fortdauer des Betreuungsunterhalts über die Vollendung des dritten Lebensjah-res hinaus rechtfertigen.

Grundsätzlich volle Erwerbstätigkeit neben Kindesbetreuung einer Tochter im dritten Grundschuljahr zumutbar

Das Berufungsgericht geht selbst davon aus, dass die gemeinsame Tochter die dritte Grundschulklasse besucht und nach der Unterrichtszeit im Rahmen der offenen Ganztagsschule betreut werden kann. Mangels weiterer Feststellungen ist nicht ersichtlich, ob es daneben einer persönlichen Betreuung durch die Beklagte bedarf, die einer Vollzeiterwerbstätigkeit entgegenstehen könnte.
Soweit das Berufungsgericht ergänzend darauf abstellt, dass die gemeinsame Tochter von Juli 2003 bis Dezember 2005 in einer Pflegefamilie wohnte und sich erst seit Januar 2006 im Haushalt der Beklagten aufhält, er-schöpft sich dieser Vortrag in allgemeinen Ausführungen zur Betreuungsbedürftigkeit. Ob der damit verbundene Wechsel der Betreuungsperson auch für die hier relevante Zeit ab Februar 2008 eine persönliche Betreuung durch die Beklagte erfordert, hat das Oberlandesgericht nicht konkret festgestellt. Auch fehlen jegliche Feststellungen dazu, ob und in welchem Umfang eine persönliche Betreuung der gemeinsamen Tochter durch die Beklagte in den Nachmittagsstunden erforderlich ist.
Auch elternbezogene Gründe, die im Hinblick auf einen verbleibenden Betreuungsbedarf neben der Ganztagsbetreuung in öffentlichen Einrichtungen und einer vollschichtigen Erwerbstätigkeit zu einer überobligatorischen Belas-tung der Beklagten führen könnten, hat das Oberlandesgericht nicht konkret festgestellt. Auch eine solche Belastung, die einer Vollzeiterwerbstätigkeit entgegenstehen könnte, kann nicht pauschal, sondern nur auf der Grundlage der individuellen Verhältnisse angenommen werden.

Pauschale Bezugnahme auf das Alter der Kinder genügt nicht

Zutreffend rügt die Revision deswegen, dass das Oberlandesgericht bei seiner Beurteilung der Erwerbsobliegenheit der Beklagten jedenfalls über-wiegend von dem dargelegten Altersphasenmodell ausgegangen ist. Selbst wenn das Oberlandesgericht hier nicht allein auf das Alter des Kindes abgestellt, sondern die von ihm dargelegten Altersphasen nur als Regelfall bewertet hat, innerhalb dessen die Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen sind, entspricht dies nicht der Rechtsprechung des Senats. Denn indem das Oberlandesgericht keine durchgreifenden individuellen Einzelumstände anführt, stellt es letztlich überwiegend auf den allein am Alter des gemeinsamen Kindes ori-entierten Regelfall ab. Dies widerspricht der gesetzlichen Neuregelung, wie der Senat bereits wiederholt ausgeführt hat (vgl. Senatsurteil BGHZ 180, 170 = FamRZ 2009, 770 Rn. 28).
Mangels hinreichend festgestellter individueller kind- oder elternbezogener Gründe kann das angefochtene Urteil, das von einer nur halbschichtigen Erwerbsobliegenheit der Beklagten ausgeht, keinen Bestand haben. Die Ent-scheidung ist aufzuheben und der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung
Vorinstanzen:
AG Grevenbroich, Entscheidung vom 24.07.2008 – 21 F 77/08 –
OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 22.12.2008 – II-2 UF 128/08 –

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